Innovation
Eine Volkshochschule für das Volk - Ein diversitätsorientierter Transformationsprozess in Basel auf der Tour de Nouvelle Suisse
Donnerstag, 24. August 2023
Von Inés Mateos
Mit dem ersten Standort in der Tour de Nouvelle Suisse hat INES in Basel verschiedene Öffnungsprozesse von Institutionen angestossen und die Volkshochschule beider Basel (VHSBB) bei den ersten Öffnungsschritten begleitet. Dafür initiierte die VHSBB mit Unterstützung von INES einen diversitätsorientierten Transformationsprozess. Dabei geht es der VHSBB darum, der grossen Vielfalt der Basler Gesellschaft Rechnung zu tragen – in Basel haben 53% der Bevölkerung einen Migrantionshintergrund – aber auch dezidiert darum, sich selber so zu verändern, dass sie für diese heterogene Gesellschaft zukunftsfähig wird.
Inés Mateos, Gründungsmitglied von INES und Diversitätsexpertin, hat als externe Prozessbegleiterin und Beraterin die erste Phase des Transformationsprozesses mit der VHSBB im Auftrag von INES gestaltet und dieses Gespräch mit Adrian Portmann (seit 9 Jahren Geschäftsführer der VHSBB) und Maja Bagat (seit 2 Jahren Leiterin Allgemeine Kurse und interne Projektleiterin des Transformationsprozesses).
Inés Mateos (IM): Was war Eure Motivation, mit INES in diesen Prozess einzusteigen?
Maja Bagat (MB): Für mich ist in meiner Arbeit die migrantische Perspektive mitzudenken schon seit langem ein Thema. Auch weil ich davor in der Anlaufstelle Integration Aargau gearbeitet habe. Hier an der Volkshochschule habe ich mich von Anfang an gefragt: Wer ist das Volk in der Volkshochschule? Als die Anfrage von INES kam, war für mich klar, dass das eine spannende Herausforderung ist, auch weil wir uns bisher nicht vertieft damit auseinandergesetzt hatten, ob wir denn das ganze Volk, alle Menschen in Basel ansprechen. Diese Frage mal systematisch anzugehen, erschien mir eine spannende Herausforderung.
Adrian Portmann (AP): Ich fand das Angebot von INES interessant, mit uns einen Transformationsprozess anzustossen und uns darin professionell zu begleiten. Besonders weil mich die Frage beschäftigte, wen wir erreichen und wen nicht. Und damit verbunden auch die Frage danach, welche Chancen wir uns vergeben, wenn wir gewisse Gruppen nicht ansprechen. Zu Beginn also ein starker Fokus auf die Frage des Publikums, aber zunehmend auch die Frage der blinden Flecken unserer Organisation. Die zweite Frage war zu Beginn eine Vermutung, die sich im Laufe des Prozesses bestätigt und verstärkt hat.
IM: Was war die grösste Schwierigkeit, Irritation, Unsicherheit auf dem Weg?
MB: Ich denke, das Schwierigste kommt erst noch. (lacht) Jetzt dranzubleiben und allen Fragen auf den Grund zu gehen und es nicht einfach so stehen lassen. Im ersten Workshop, den wir mit Dir hatten, hast Du mal gesagt, dass es eine Falle ist, wenn alle gleich denken. Dass ‘Groupthink’ auch ein Problem sein kann. Wir ticken alle sehr ähnlich im Team und sind offen. Das führt zuweilen dazu, dass man sich zufrieden gibt, weil man sich so einig ist. Wir müssen es richtig angehen, nicht zu schnell zu einfache Lösungen wollen. Da sehe ich eine Gefahr.
AP: Ich sah im Prozess nicht wirklich Schwierigkeiten. Es ist eher jetzt die grosse Frage: Was kommt jetzt auf uns zu? Während des Prozesses konnten wir vieles zuerst ausklammern, da ging es noch nicht so um die konkrete Umsetzung. Nun müssen wir aber an die Umsetzung, und da kommen die üblichen Schwierigkeiten: Einerseits müssen wir das bisherige Angebot aufrecht erhalten. Dann sind da noch vielfältige andere Ansprüche, jene von Menschen Beeinträchtigung, von Menschen mit geringem Einkommen, Fragen der Nachhaltigkeit, spezielle Bedürfnisse von Senior*innen, die Ansprüche des angestammten Publikums u.a.. Dazu kommt die Ressourcenfrage. Alles werden wir nicht tun können. Für mich stellt sich die Frage, wie können wir die Transformation, die wir nun angefangen haben ins grosse Ganze integrieren, ohne uns zu überfordern.
IM: Welches waren in unserem gemeinsamen Prozess wichtige Erkenntnismomente? Vielleicht auch bei Eurem Team, das ja in vielen Prozessschritten mit dabei war?
AP: Deine Erläuterungen zur Zusammensetzung der Bevölkerung in der Region, auch die statistischen Erhellungen. Das war mir ja nicht alles ganz neu, aber es so konzis dargestellt zu bekommen, war sehr erhellend und auch motivierend. Auch um in Bezug auf die Zukunft weiterzukommen.
MB: Vielen im Team blieb die Aufstellung im Raum. Diese Mehrheiten-Minderheiten Verhältnisse so am eigenen Leib zu erfahren, war für alle sehr eindrücklich. Da kommen wir im Team auch oft darauf zurück.
IM: Was seither geschah: Was hat es bisher konkret gebracht? Wohin geht die Reise?
AP: Wir hatte im Herbst eine Retraite mit dem Stiftungsrat. Und haben erste Weichen für die Strategie 2025-2028 gestellt. Wir haben da das Thema eingebracht und es war eines der Themen, das wir sehr ausführlich diskutiert haben. Es war eine wichtige und spannende Diskussion im Stiftungsrat. Und dann wurde klar, dass es an prominenter Stelle in die Strategie Eingang findet: Im Kapitel Publikumsentwicklung wird eine von 3 Zielgruppen neu die migrantische Bevölkerung sein, weiterhin mit Spezifizierung Alter (VHSBB spricht ja auch sonst v.a. ein mittelalterliches und älteres Publikum an). Wir hatten interessante und eingehende Diskussionen darüber, ob es wirklich eine spezifische neue Zielgruppe ist oder einfach auch ein neuer Blick auf diese postmigrantische Zusammensetzung der Gesellschaft der Region Basel. Aber als Zielgruppe ist es wohl klarer und v.a. handhabbarer.
Dann war es auch bei der Zusammensetzung und Besetzung der Organe der Stiftung ein wichtiges Thema. Bei der aktuellen Vakanz im Stiftungsrat haben wir Kriterien mit Diversitätsbezug für den Kanton erstellt, der den Stiftungsrat wählt, und wir haben auch konkrete Vorschläge gemacht. Das wurde wohlwollend aufgenommen, sowohl im Stiftungsrat, wie auch im Kanton. Das ist eine eindeutige Wirkung auf oberster strategischer Ebene der Organisation und ein erster Erfolg für den initiierten Prozess, der über das operative Geschäft hinausgeht.
MB: Unter den Planer*innen im Team ist die Transformation ein präsentes Thema geworden. In der Broschüre für das neue Semester sind ein paar neue Namen bei den Dozierenden dabei, die nicht offensichtlich schweizerisch oder deutsch sind. Offensichtlich hat alleine der Prozess schon eine Auswirkung darauf gehabt, auf wen wir zugehen, wie wir die Auswahl treffen. Wir haben ja davor schon ein Augenmerk auf Alter und Geschlecht gehabt, aber jetzt kommt die Migrationsgeschichte als neuer Aspekt bewusst dazu, um mehr Diversität hereinzubringen.
AP: Wir schauen genauer auf das, was wir tun. Es ist auch ein Bewusstmachungsprozess gewesen. Ja. Wir sind jetzt weiter dran, es bleibt auf unserer To-Do-Liste. Wir müssen die Mittel für einige der Massnahmen noch aufmachen, aber ja, wir sind dran. Wir gehen es aber nachhaltig und seriös an, wir wollen Wirkung erzielen mit den Massnahmen, die wir umsetzen. Nicht Schnellschüsse, die dann gar nichts bringen. Wir sind auch da strategisch unterwegs, wir versuchen die Massnahmen, die wir treffen auf Nachhaltigkeit zu prüfen. Aber es hat schon eindeutig etwas im Mindset von uns allen geändert, die mentale Möblierung ist im Alltag spürbar.
MB: Unser nächster Schritt ist eine Umfrage unter unseren Teilnehmenden: Wir müssen mehr wissen, unser eigenes Feld erforschen, um daraus Schlüsse zu ziehen und das Richtige zu tun.
IM: Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit INES für die VHSBB gehabt? Oder anders gefragt: Hättet Ihr einen solchen langfristigen Transformationsprozess ohne die proaktive Offensive von INES angegangen?
AP: Wir hätten es in dieser Art sicher nicht angegangen. Es war eindeutig ein Beschleuniger. Ich habe ja zu Beginn gezögert, weil wir gerade Corona überlebt hatten. Ich hätte so einen Transformationsprozess wohl zu dem Zeitpunkt nicht nagedacht…
MB: …aber Eure Anfrage kam schon zum richtigen Moment, obwohl es sich vielleicht am Anfang nach Überforderung angefühlt hat. Aber es war ja nach Corona auch einiges in Bewegung und deswegen letztlich ein guter Moment, weil sich vieles am Verändern ist nach Corona. Ein guter Moment, um vertiefter hinzuschauen, zu überdenken.
AP: In diesem Sinne war Eure Anfrage und der ganze Prozess sowas wie ein hilfreiches Tool, um zu überlegen, wie wir mit den Veränderungen umgehen wollen. Es war eindeutig eine Perspektiverweiterung.
MB: Und überhaupt, um mal genauer hinschauen. Auf die Zusammensetzung, die Bedürfnisse, die Formate. Alle Fragen, die sich auch durch die Pandemie stellen, kann man auch in Bezug auf die Diversität des Publikums und auch der Dozierenden stellen.
AP: Das Timing war im Nachhinein gesehen eigentlich ziemlich gut. Wir konnten die strategischen Fragen in Hinblick auf Diversität mit dem Stiftungsrat gut im Prozess mit dir vorbereiten. Es geht so besser in die DNA der VHSBB über. Dass es nun so in der Strategie steht, ist eine Kontroll- und Motivationsinstanz. Nicht nur wir können dem Stiftungsrat sagen: «Aber es steht in der Strategie», sondern auch der Stiftungsrat wird sagen können: «Aber Ihr wolltet das doch in der Strategie drin haben». Es schafft gegenseitig Verbindlichkeit.
_IM: Das ist auch der Grund, weshalb ich als Prozessgestalterin insistiere, dass die Leitung Teil des Prozesses ist, weil nur über die Leitung kommt man dann auch auf die strategische Ebene, in diesem Fall in die Prozesse des Stiftungsrats.
IM: Zum Schluss: Würdet Ihr es wieder tun? _
Beide: Ja!
AP: Vielen Dank an dich und an INES. Ich war beeindruckt, mit wieviel Engagement und Aufwand INES dabei war. Nicht nur du als Prozessbegleiterin, sondern auch dass immer wieder in unterschiedlichen Phasen andere Leute aus dem INES-Netzwerk mit an den Workshops dabei waren.
MB: Ja, ich hatte auch das Gefühl, dass wir ein Teil einer Bewegung sind, auch weil INES national unterwegs ist und dadurch eine neue wertvolle Vernetzung entsteht. Die Tour de Nouvelle Suisse und die Veranstaltung in Basel waren ein solcher Vernetzungsort. Man ist Teil von etwas Grösserem.
